Paretymologisches – Aus der Reihe: “Ösitanisch für Außerösische“

G’scherter, bair., österr. = ländlicher Provinzbewohner; bes.: Nichtwiener

»Das Wort Gscherter (auch G’scherter, Gescherter, dialektal Gscheada, zu geschoren) ist ein Schimpfwort, das hauptsächlich im süddeutschen Raum und vor allem in Österreich und Altbayern verbreitet ist. Man will damit einen ungehobelten, derben, nur Dialekt sprechenden bäurischen (nicht in der Stadt Aufgewachsenen), groben [..] Menschen charakterisieren. Gebräuchlich auch als Adjektiv (gschert).«  (Wikipedia)

Eine Erklärung, weswegen im bairischen Sprachgebrauch eine rurale Person angeblich als “Geschorener“ bezeichnet würde, ließe sich laut Wikipedia gar aus einem Text des römischen Historikers Tacitus über die alten Germanen vor zwei Jahrtausenden herleiten:

»Im Gegensatz zu freien Germanen, die langes Haar tragen durften, wurden Unfreie, Leibeigene, Sklaven, Gefangene und Verbrecher kahlgeschoren, also „geschert“ (vergl. Tacitus, Germania A. 31).«

Darunter wird eine weitere vermeintliche Belegstelle für eine angeblich obrigkeitlich ver­ord­nete bäuerliche Haupthaarschur bemüht, aus einer mittelalterlichen Versdichtung:

»Auch nach den ständischen Kleiderordnungen des Mittelalters durften die unfreien Bauern ihr Haar nicht lang tragen, es heißt darum beispielsweise in Wolframs von Eschenbach Parzival: „Nennt mich also, wie Ihr wollt: Ritter oder Knappe, Page oder gescherter Bauer“.«

Indessen ist das landläufige volksetymologische Narrativ von den zwangsweise geschorenen Bauern, wie es hier auf Wikipedia kolportiert wird, schlichtweg Unsinn. Tatsächlich steht in Eschen­bachs mittelhochdeutschem Originaltext nichts über einen “gescherten“ Bauern, vielmehr handelt sichs dabei um eine willkürlich extemporierte Hinzufügung in der modernen Übersetzung. Lediglich mhd. “garzûn oder vilân“ steht dort ¹), und das heißt lediglich “Page oder Bauer“ ²). Keine Rede von irgendwelcher Schurfrisur auf irgendwessen Haupt.

Eine stichhaltigere Herleitung des pauschalen Pejorativs “G’scherte“ für das gemeine Landvolk mit Bezugnahme auf dessen artspezifische Kurzhaartracht mag sich hingegen im “Bayerischen Wörterbuch“ von J. A. Schmeller (1836) entdecken lassen:

»[..] scheren unsre Bauern die Haare am ganzen Kopf [..] ab. Wol auf eine vornehmere ehm. Haarmode bezüglich, heißt hochgeschorn im Voc. v. 1680 (cf. Narrenschiff f. 170) superbia elatus [= “aus Stolz, Hochmut“]« ³) [vgl. Wander ⁴)]

Aus freien Stücken entledigten sich mithin die bayerischen Landwirte ihres Haupthaars, und wurden freilich nicht auf Geheiß ihrer Herrschaften geschoren, wie allenthalben fälschli­cherweise paretymologisch tradiert – für welche traditionelle Herleitung im übrigen auch nirgendwo ein historischer Quellenbeleg zu finden ist.

C. censeo: Man muss nicht alles glauben, was auf Wikipedia steht  
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Nachweise über schriftliches Vorkommen des Ausdrucks G’scherter/Gscherter/Gescherter in der Literatur ab 1800: ⁵)

12 Kommentare

  1. Danke.
    Mich hat’s auch erwischt. Und vor mir den Geschichtsbrotfresser. Wer dem den falschen Sachverhalt der Glatzenträger beigebracht hat, ist nicht überliefert – vielleicht ein Vortragender auf der Uni, wer weiß, der auch dem Tacitus auf den nicht ganz wasserfesten Leim ging.
    Heutzutage tragen den haarlosen Schmuckkopf meist Kämpfer, wenn sie welche werden wollen, was aus taktischen Gründen verständlich ist, und die sind großteils in Städten zu Hause – bei den Gscherten seh ich kaum welche, wenn ich rundreise ;}

      1. Wobei die Herkunft der „ollen Kamellen“ bis dato nicht gesichert geklärt ist.

      2. Ein Erklärungsvorschlag findet sich bei Krüger-Lorenzen, “Deutsche Redensarten und was dahintersteckt“ (1960):

        »Der plattdeutsche Dichter Fritz Reuter (1810-1874) erklärt die Wendung so: “Dat stammt sick von de Kamellenbleumen her, dei ock nich recht sihr för Bukweidag (Leibweh) helpen will, wenn sei äwerjährig worden sünd.“ Auf hochdeutsch: das stammt von der Kamille, die auch nicht recht gegen Leibschmerzen mehr helfen will, wenn sie alt geworden ist.«
      3. Dankeschön für die Erklärung, lieber Nömix, denn hierzulande (Rheinland/Ruhrgebiet) gelten Kamellen (süß, klebrig) entweder als Plombenzieher oder als Wurfgeschosse bei Karnevalszügen.

      4. Die Plombenzieher nennen sich in Ösiland Karamellen, weil sie nach Caramel schmecken, welche die Caravellen aus Übersee einfahren (wenn es sich um Rohrzuckerkaramellen handelt).

      5. Die „Camel“-Tschick, so wunderbar
        Zeih’n kein Kamel, ein Dromedar.
        Der Traber ist, so dünket mir
        kein schnöd’ Kamel: ein Trampeltier !

  2. Danke für die profunde Aufklärung. Als eingeborene Südbayerin benutze ich den Begriff „gschert“ bzw. „so a Gscherter!“ recht oft, habe mir aber ehrlich gesagt noch nie Gedanken über die Herkunft des Begriffes gemacht.

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