Ein Beitrag zum nostalgischen Erzählprojekt, welches Kollege Trithemius in seinem Teestübchen ausgerufen hat: »Die Läden meiner Kindheit. Ein literarischer Ausflug in eine versunkene Alltagskultur«
───────────────────────────────────────────────────────────────────
Branntweiner, vulgo Brandineser, gab es ehemals in Wien an jeder zweiten Ecke, heutzutags gibts nur mehr ganz wenige, die letzten werden bald ausgestorben sein. Die Branntweinschenken nannten sich hochtrabend »Tee ū. Likörstube«, die Ausschanklizenz zur Branntweiner-Konzession war ursprünglich auf (auch selber hergestellte) Spirituosen beschränkt: offenes Bier & Wein durften nicht ausgeschenkt, warme Speisen keine angeboten werden.
Jeder Branntweiner hatte die gleiche Vitrine mit dem gleichen Standardsortiment auf der Budel stehen: ein hundertjähriges hartgekochtes Ei, ein Packerl Manner-Schnitten, eine Dose Sardellenringerl. Keiner bestellte jemals das harte Ei oder die Sardellenringerl, wahrscheinlich übernahm es jeder Branntweiner mit der Geschäftsausstattung vom jeweiligen Vorgänger und der letzte nimmts ins Grab mit.
Eine populäre Wiener Branntweinstube führte seinerzeit auch »Der starke Pepi« Steinbach, ehemals vielfacher Weltrekordmeister im Gewichtheben.
Auch in Neulengbach gab es früher einen Branntweiner, den Ondra in der Wienerstraße an der Hechtlbrücke. Schräg visàvis lag (und liegt freilich immer noch dort;) der Neulengbacher Friedhof, und morgens pflegten u.a. der Totengraber und seine Gehilfen in ihren schwarzen Kitteln und Gummistiefeln beim Ondra einzukehren um sich für ihr Tagwerk zu stärken, und mittags und abends wiederum um ihr tagsüber einvernahmtes Trinkgeld hinzutragen.
Als Kindern wurde uns manchmal, wenn unerwartet Besuch kam, aufgetragen Sodawasser zu holen. Die Erwachsenen spritzten ihren Wein damit, und auch die Kinder kriegten zu solchen Anlässen ihr Himbeerwasser mit Soda, was es für gewöhnlich nur mit Leitungswasser gab. Mit peinlicher Achtsamkeit, sie nicht fallen zu lassen, trugen wir die Siphonflasche aus Glas (Abb. rechts) über die Hechtlbrücke, um sie drüben beim Ondra gegen eine gefüllte einzutauschen. (Mittlerweile wurden die Gebäude samt Geschäftslokalen dort planiert und eine breite Schneise für die Durchzugsstraße quer durch den Ortskern geschlagen, wo der Hauptverkehr unablässig vorüberbrettert – heute fiele es gewiss keinen Eltern mehr ein, kleine Knirpse mutterseelenallein loszuschicken und sie unbegleitet überqueren zu lassen.) Das Pfand für die Sodawasserflasche kostete 10 Schilling, der Aufpreis für eine gefüllte nur einen: die Leerflasche war somit wesentlich kostbarer als der Inhalt, daher unsere gebotene Vorsicht beim hin- und heimtragen.
Die teils recht illustren Typen, welche beim Branntweiner Ondra als Stammpublikum verkehrten, stellten für uns Kinder stets ein Faszinosum dar, und öfters spendierte uns einer von denen in schnapsseliger Spenderlaune eine der hundertjährigen, unter der Stanniolfolie längst weißlich angelaufenen kleinen Bensdorp-Schokoladen, welche in der mit Lurchfilz (© Kollegin Etosha) patinierten Vitrine auf der Schankbudel auslagen.
─────────────────────────
Weitere Beiträge: ▶️ ▶️
eine kleine sentimentalitätsträne läuft grad über meine wange
Ah, das ist der am Gürtel beim 49er.
Früher gab’s in der Nähe jedes Postamtes einen, aber die Briefträger sind auch nicht mehr was sie einmal waren.
Diese Art der Nostalgie teile ich zur Abwechslung nicht, weil der Branntweiner heutzutage hier in Wien die lokalgewordene letzte Stufe des menschlichen und sozialen Abstieges aufgrund von Alkoholismus darstellt, auf eine Stufe, auf der einem egal ist, welchen Fusel man säuft, solange er nur halbwegs viel Alkohol enthält …
verehrte frau walküre, für diesen umstand zeichnet aber jeder einzelne betroffene
für sich selber verantwortlich und nicht der branntweiner als solches.
man macht ja auch nicht tankstellen für verkehrsunfälle verantwortlich.
daß diesem beitrag eine gehörige portion ironie innewohnt erklärt sich von selbst.
Eine interessante Anekdote. Danke!
als berliner lese ich hier mit „verstehendem“ interesse mit … ,
und ich verstehe sehr, sehr gut den nostalgischen reiz dieser „branntweiner“, und ich wünschte, dass es in berlin auch diese einrichtung gegeben hätte.
wir hatten hier in berlin bis anfang der 40er jahre ( des vergangenen jahrhunderts !!! ) an jeder straßenkreuzung in den bezirken die etwa die struktur vom 10. wiener hatten, 4, in worten vier kneipen, die unter anderen auch von briefträgern frequentiert wurden. man bekam dort neben seiner „molle mit korn“ noch soleier – die sahen eklig aus – und rollmöpse, die man briefträgereisbein nannte. weder die urigen kneipen, noch den richtigen berliner briefträger gibt heute noch …
ich bin bei ihnen, mit einer winzigen träne im knopfloch …
@ profiler1
Was Sie schreiben, ist natürlich vollkommen richtig; was ich ausdrücken wollte, war, dass ich im Branntweinersterben nicht Trauriges erkenne, wiewohl mit den Branntweinern die Alkoholiker leider nicht aussterben werden …
Im Gegensatz dazu: Gäbs keine Tankstellen mehr, würde aufgrund des Spritmangels auch die Zahl der Verkehrsunfälle deutlich zurückgehen. :-)
Der Witz ist, mit einem Dealer, der sein Geschäft nun auch schon seit Jahrzehnte macht, funktioniert das melancholische nicht.
Schade, dass man nicht darüber diskutieen könnte, über diese Widersprüchlichkeiten, dass man da drinnen sich die Leber wegsaufen kann, ist Eigenverantwortung und hat man unserer Gesellschaft nichts zu tun..
Besser die Menschen sitzen in einer warmen Stube als das sie herumlungern und billigen gekauften Fusel trinken.
Und „clevere“ Brandineser hatten auch ungekühlte „Faschierte Laibchen“. Wenn die „Partien“ und „Saufrunden“ im Gang waren wurde sehr wohl „alles“ verzehrt. Diese Lokalitäten waren aber auch für arbeitende Menschen „unterwegs“ wichtig. Lieferfahrer, Vertreter etc. kehrten hier gerne schnell auf ein „Achterln“ oder eben auf diese „Speisen“ ein.
Köstlich amüsiert habe ich mich über das vererbbare hartgekochte Ei in der Vitrine beim Branntweiner, und ihren launigen Hinweis: „und der letzte nimmts ins Grab mit.“, womit dann auch geklärt wäre, worüber wir uns hieramts schon austauschten: Ob Huhn oder Ei zuletzt übrig bliebe. Ein solcherart vermutlich bereits versteinertes Ei wäre quasi unkaputtbar. Mit „Lurchfilz“ wieder ein neues Wort gelernt. Vielen Dank!
Ich bin ja in Wien aufgewachsen und beim „Brandineser“ Ecke Knöllgasse/Troststrasse gabs auch immer Rollmops und Teufelroller…
und das „Häusl“ war im 1. Stock und nur über eine (sehr) steile Stiege zu erreichen (und wurde daher seltenst benutzt)
Und ich amüsiere mich bei dem Gedanken, was kleinen Kindern damals abverlangt wurde – bzw. dass ihnen überhaupt etwas abverlangt wurde: nämlich gefälligst auf das kostbare Glas aufzupassen, das ihnen anvertraut war. Warum hat man dasselbe nicht einfach in eine Tasche oder, falls es keine passende gab, einen ausgepolsterten Korb gesteckt? Da wäre ja dann keine solche Verantwortung mit verbunden gewesen — also, nicht dass ein Korb nicht auch herunterfallen könnte, aber ich glaube, das war der Hauptgrund, warum man das Glas pur in Händen tragen musste: um der Verantwortung willen, mit der der zu erwartende Genuss zu erkaufen war!
@ Rudi
Wobei das Glas mit den Teufelsrollern immer in gebührendem Abstand zum Goldfischglas platziert war, auf dass es nicht zu Verwechslungen käme …
@ iGing
Da haben Sie recht, ich meine auch dass man Kindern damals viel früher Verantwortung und Pflichten abverlangte als heute. Helikopter-Eltern gab es damals viel seltener.