Kollege Trithemius ruft in seinem Teestübchen zu einem Erzählprojekt auf: »Die Läden meiner Kindheit. Ein literarischer Ausflug in eine versunkene Alltagskultur«.
Da man auch hieramts gern der sentimentalen Nostalgie anheimzuhängen pflegt, ein Beitrag dazu:
Als Kinder wurden wir in den Sechzigerjahren von der Mutter zum Milchholen geschickt: mit den abgezählten Schilling und Groschen in der einen und der Milchkanne (Abb. rechts), welche es dazumals in jedem Haushalt eine gab, in der andern Kinderhand stiefelten wir los, um sie auffüllen zu lassen.
Milchgreißlerei und Fischhandlung in Neulengbach teilten sich, in kurioser Allianz, ein gemeinsames Geschäftslokal in der Wienerstraße: eine Ladenhälfte war der Milchverkauf, und gegenüber stand hinter seiner Budel der Fischtandler Herr Rothwangl, der eine Gummischürze umgebunden hatte und ein Kopftuch wie ein Pirat. Aufgrund der divergenten Feilgebote innerhalb nämlicher Geschäftslokalität war diese von einer einzigartigen Geruchsmischkulanz, sozusagen einem olfaktorischen Cuvée, durchweht.
Der Milchgreißler hieß Herr Böswarth, war verwitwet und unserer kindlichen Einschätzung gemäß mindestens hundert Jahre alt. Stets trug er einen kakaobraunen Arbeitskittel und als Kopfbedeckung einen abgeschnittenen, oben zu einem Dutt verknotenen Nylon-Damenstrumpf, welchen gewiss seine verblichene Gattin ihm hinterlassen hatte. Wozu er die extravagante Strumpfhaube aufhatte, ahnten wir Kinder freilich nicht: vermutlich diente sie als hygienische Maßnahme, damit während seiner Abfüllmanipulationen kein unversehens herabfallendes Kopfhaar in die zu verkaufende Milch geriet.
Milchgreißler gibts heutzutags schon lang keine mehr. Wo in den Sechzigerjahren Herrn Böswarths Milchgreißlerei nebst Herrn Rothwangls Fischhandlung war, befindet sich heute ein Nagelstudio.
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Herrliche Impressionen, lieber Kollege! Allein die Berufsbezeichnungen und damit verbundenen Wörter stimulieren meine Vorstellungskraft, und schon stehe ich in der olfaktorischen Kakophonie aus Milch und Fisch und weiß nicht, ob ich zum Pirat oder zu dem mit dem Strumpf auf dem Kopf gehen soll. Derlei Verwirrung gibts mit dem Nagelstudio nicht. Immerhin ist es auch etwas Handfestes. Dankeschön für Ihr Teilnehmen am Erzählprojekt. Der Beitrag steht schon in der Linkliste.
Ich bin ja so alt, ich habe ja den Wechsel von handgepumpter Milch zu maschinengepumpter Milch (jeweils in eine Blechkanne) mitgemacht. Und später die Automaten für Glasflaschen, bevor die Tetrapaks kamen.
Als 1988 die neuartigen Milch-Tetrapaks eingeführt wurden, gab es massive Kundenbeschwerden weil die so kompliziert zu öffnen waren. Daraufhin trat ein Produktmanager der Molkereigenossenschaft in der ORF-Informationssendung “wir“ live vor Studiopublikum auf, um den patscherten Konsumenten zu demonstrieren wie man das fachgerecht macht – und lieferte einen Klassiker der TV-Realsatire ab:

Lieben Dank für Deine Erinnerungen. Ich bin mir sicher, der Dutt wird mich als Bild noch eine Weile begleiten.
Liebe Grüße
San
Jessas, das Fischgeschäft vom Rothwangl!
Ich muss so um die fünf, sechs Jahre alt gewesen sein, jedenfalls noch nicht des Lesens mächtig, als mir die Nachbarin, vulgo „Tante Jetta“, Geld und ein leeres Konservendöschen in die Hand drückte und mich bat, ihr aus dem Ort so was zu holen. Ob ich ihr nicht richtig zugehört oder nach zweihundert Metern schlicht vergessen hatte, in welchem Geschäft ich das Zeugs kaufen solle, weiß ich nicht mehr, aber offenbar hatte ich mir zumindest gemerkt, dass ich in die Wienerstraße müsse. Und dort stand ich dann mit dem verdammten Ding in der Hand und hatte keine Ahnung, wo ich das nun bekäme. Mit kindlicher Logik hab ich dann einfach versucht, in den Auslagen der paar Geschäfte so was Ähnliches wie meine Dose zu entdecken und bin schließlich in die Farbenhandlung Spreitzer reinmarschiert.
Um von dort zum Rothwangl weitergeschickt zu werden, weil sie beim Spreitzer natürlich keinen Kaviar hatten.
Eine weiß Gott harmlose Szene. Aber an das übermächtige Gefühl von Scham ob meiner vermeintlichen Dummheit kann ich mich noch heute erinnern.
@ Trithemius
Danke für Ihren Beifall, lieber Kollege. Ihre Wortkombination »olfaktorische Kakophonie« beschreibt trefflich die Geruchsmelange, die mir aus der Kindheit in Erinnerung ist.
@ pathologe
Eine zeitlang gab es sogar auch mal Milch in 1-Liter-Plastikbeuteln zu erwerben. Konnte sich aber nicht durchsetzen, da es unpraktisch zu transportieren und lagern war.
@ offshore
Ach lieber Bruder, freut mich dass du dich hieramts mit einem Beitrag zu Gast meldest ; ) Über unsere Nachbarin Tante Jetta habe ich übrigens auch mal eine Kindheitserinnerung beschrieben.
Ein köstlicher Beitrag, herr nömix, wenn auch vielleicht etwas verwirrend duftend.
Er erinnert mich daran, dass wir die Milch sogar noch beim Bauern holten, wo die Schwalben noch über dem Milchkessi nisteten und wir dem Bauern stets einen Zweifränkler in die raue, von der Arbeit mit dem Vieh immer etwas gebräunte Hand drückten. Für zwei Liter. Das ist ein Milchpreis, von dem heutige Landwirte nur noch träumen können.
das Kind vom Land hatte in den Fünfzigern das Privileg des Erstgeborenen, in der „Müchgenossenschoft“ von Prellenkirchen Frischmilch vulgo „kuahworme“ im Alukandl zu holen, dort wurden nicht jedesmal Groschen entgegengenommen, nein, ich durfte als Zweitklassler der örtlichen Volksschule eine Unterschrift leisten, worüber ich sonst als noch lange nicht Geschäftsfähiger mächtig stolz war, abgerechnet wurde monatlich über den Sparverein
Anders als bei den Tetrapacks konnte man die Beutel aber komplett leeren.