Imperatives

Aus der Reihe: “Ösitanisch für Außerösische“

Kollegin Etosha nimmt den Kommentar von Kollege gulogulo zu einem vorangegan­genen Ein­trag wiederum zum Anlass für erweiterte Ausführungen über das »reflexive Schleichen«.

Neben der imperativen Bedeutungsvariante »Verschwinde, Hau ab!« im räumlichen, sowie »Lass mich in Ruhe!« im kommunikativen Sinne – der an den Angesprochenen direkt ad­res­sierten Aufforderung, sich aus dem Wahrnehmungsbereich des Sprechers hin­weg zu verfügen – tritt der Imperativus Ösitaniensis »(Geh) schleich di« [schleiche dich; reflexiv] in pseudo-imperativer Variante in breitem Bedeutungsspektrum auf.
Im ösitanischen Idiom findet die Wendung »Schleich di!« bevorzugt als sekundäre In­ter­jektion Gebrauch, um etwa Überraschung, Verblüfftheit, ungläubiges Er­staunen, aber auch Be­stür­zung, Verärgerung, u.ä. zum Ausdruck zu bringen. Ob der Sprecher mit diesem Aus­spruch positive oder negative Emotion kundtut, lässt sich für den Zu­hörer aus der unter­schied­lichen Modulation der Tonhöhe & Klangfärbung sowie Deh­nung des Vokals erkennen.
– Kollegin Etosha führt als Dialogbeispiel an:
    »Ich hab fünf Tausender im Lotto gewonnen!«
    »Geh schleeeich di!«
    [Übers. f. Außerösische: »Nein, wirklich? Nicht zu fassen!«]
– Die nämlichen Vokabeln, jedoch unter variierter Betonung & Vokaldehnung, for­mu­lieren sich ebenso zur Beileidsbekundung:
    »Gestern ist mein Hund gestorben.«
    »Geh schleeich di!!«
    [»Ach, wie traurig. Das tut mir leid.«]
– oder zum Ausdruck des Entsetzens:
    »Unser Haus ist abgebrannt.«
    »Geh schleich di!!!«
    [»Mach keine Witze! Das ist ja schrecklich.«]
Mitunter richtet sich die pseudo-imperative Interjektion auch an ein imaginäres Gegen­über, indem der Ausrufer angesichts eines unerbaulichen Sachverhalts ungehalten in Mo­no­log­form interjektiert,
– als Unmutsäußerung:
    »Geh schleich di!«
    [»Verflixt! So ein Mist.«]

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Kollege Hubbie bemerkt in einem Kommentar zu dem referenzierten Artikel überdies eine Tendenz des Imperativus Ösitaniensis ins vermeintlich Vulgäre, welche sich z.B. in der mit »Geh schleich di!« synonymen Interjektion »Geh, leck!« (auch: »Ja, leck!«) gleichfalls fest­stel­len lässt. So mag es den außerösischen Zuhörer durchaus befremden, wenn der ösi­ta­ni­sche Sprecher seine Verwunderung (Betroffenheit usw.) solcherart ar­tikuliert, indem er ihm ex­pres­sis verbis das (Arsch-)lecken aufträgt.
Wir kennen die Redensart aus der konkreten Fallbeschreibung des sogenannten “Herr­gott­schnitzer-Syndroms“:
Der Pfarrer gibt beim Herrgottschnitzer eine Schmerzensmannfigur in Auftrag, und als er sie zum erstenmal sieht, da erscheint ihm der dargestellte Gesichtsausdruck zu­wenig leidend: der Herrgottschnitzer solle nachbessern. Also schnitzt der weiter an den Gesichtszügen, um sie noch schmerzverzerrter zu gestalten; der Pfarrer indessen ist noch immer nicht zufrieden. Der Herrgott­schnitzer schnitzt weiter und weiter an der Leidensmiene des Schmer­zens­manns herum – bis er zuletzt resümiert:

    »Jo leck mi’n Oasch, jetzt lacht er.«
    [Übers. f. Außerösische: »Weniger wäre mehr gewesen.«]

5 Kommentare

  1. Ein sehr instruktiver und in seinen kontextuellen Differenzierungen löblicher Beitrag! Ich werde das amal demnächst, wenn ich dahier, nicht unweit, über die Sprachscheide ins Tirolerische hinüber komme, ausprobieren. Mal schau’n, wie das ankommt.

    Evtl. freilich: „Wos is? Jetzt schleichst Di oba, Piefke!“

  2. in oberpfälzisch sehr ähnlich, statt des Schleichen jeweils lediglich ein „Weitergehen“ einzusetzen. „Ah, geh weida.“

    Eskalierend in: „Geh weida, kum her.“ [„zier di net so“]

  3. Das „Geh schleich di“ kommt in meinem privaten Sprachgebrauch durchaus häufig vor. Ich finde, es ist so schön vielseitig, und man kann über die Betonung allerlei Emotion reinlegen (=loslassen). Kurz gesagt: Es kommt mir sehr entgegen.

  4. dem Trenker sei Voda woa jo a a Herrgottschnitza…..so nimmt es nicht Wunder, dass Junior Luis jeden Halbsatz mit „Jo, do leckst mi’m Oarsch“ beendete…

    I. d. Z. drängt sich natürlich ein Beamtshandeln des kleinen, aber hygienisch feinen Unterschieds des Goetz’schen „am“ und des ösitanischen Herrgottschnitzers „im“ auf, vom Köchelverzeichnis 382c gar nicht zu reden

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